Stell dir mal vor, du hättest damals in Israel gelebt und hättest diese Veranstaltung nicht besucht. Ist doch denkbar, oder? Stell dir vor, du hättest dann gehört, was dort vor dem Wassertor geschehen war - hättest du es bedauert, dass du nicht dabei warst? Wärst du traurig, dies Erlebnis verpasst zu haben? Dies ist eine rhetorische Frage. Mit dieser Frage werden aber wichtige Tatsachen ins Licht gerückt. Lassen wir uns leicht davon abhalten, mit anderen Christen Gottesdienst zu feiern? Wenn ja, warum? Eine unregelmäßige Teilnahme am Gottesdienst ist kein gutes Zeugnis für Jesus Christus, für seine große Liebe zur Welt, seine Auferstehung und seinen Sieg. Hier lesen wir: alle kamen – alle baten Esra, ihnen das Wort Gottes vorzulesen und auszulegen, alle ehrten Gottes Wort, alle beteten Gott an, alle hörten aufmerksam zu, alle weinten, alle hörten: „seid nicht bekümmert, denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ Das ist eine wichtige Wahrheit: Lass dich nicht so leicht vom Gottesdienst abhalten!
Die Freude am Herrn ist eure Stärke (8,10). Diese Botschaft wurde ausgesprochen, als die Israeliten aus der babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrt waren. Unter der Leitung Nehemias hatten sie die zerstörte Mauer Jerusalems in nur 52 Tagen wiederaufgebaut. An diesem Punkt berief Nehemia am Stadttor der wiederaufgebauten Mauer eine besondere Versammlung ein. Im Monat Tishri (September-Oktober), finden für Juden drei wichtige Feste statt: das Neumondfest, der Versöhnungstag und das Laubhüttenfest.
Das ganze Volk versammelte sich geschlossen auf dem Platz vor dem Wassertor (8,1). Allein 42360 Männer (7,66) nahmen an dieser Versammlung teil; hinzu kamen 7300 Diener, darunter 245 Sänger. Insgesamt waren rund 50.000 Männer anwesend. Über 6 Stunden wurde Gottes Wort gepredigt. Die Bibel berichtet, dass die Menschen hungrig waren, das Wort Gottes zu hören: Das Volk ... bat den Schriftgelehrten Esra, das Buch mit dem Gesetz des Mose zu holen ... (8,1-2).
Ein Satter tritt Honigseim mit Füßen; aber einem Hungrigen ist alles Bittre süß. (Spr 27,7) Das Kostbarste, Süßeste, Edelste – kann ein satter Mensch nicht wertschätzen – es wird gering geachtet. Sind wir auch satt?? Nehemia 8 ist ein Appell: Bitte Gott um Hunger nach seinem Wort! Neh 8,1-6 zeigt die Ehrfurcht und Ernsthaftigkeit der Menschen. Sie hungerten nach dem Wort Gottes. In einer Bibelübersetzung steht: Und das Volk lauschte gespannt dem Buch der Lehre. 8,3 (Riessler) Oder: Alle hörten aufmerksam zu, vom frühen Morgen bis zum Mittag. (Hoffnung f. alle) Die Ziehung der Lottozahlen hätte an diesem Tag im Kampf um Aufmerksamkeit verloren. Ist es nicht erstaunlich, welche Fähigkeiten in einem Menschen stecken!? Menschen können aufmerksam zuhören! Menschen können ihr Leben, ihr Tun und Lassen, mit Gottes Augen sehen! Menschen können zutiefst traurig sein über eigene Fehler und Schuld! Menschen können Gott und seinen Willen für ihr Leben verstehen! Menschen können ihr Leben ändern! Wirklich erstaunlich! Das gilt doch auch für uns.
Versteht das nicht falsch: Erweckung ist nicht machbar. Es reicht nicht zu sagen: du musst nur ehrlich wollen, dann wirst du geistlich erweckt. Aber gestattet die Frage: Wie sehr sehnst du dich nach Erweckung, nach der Nähe Gottes, nach der Freude am Herrn??? Wird diese Sehnsucht in dir sichtbar? Als Baptisten feiern wir im Unterschied zu anderen Kirchen „Wortgottesdienste.“ Die Auslegung und Verkündigung der Bibel steht bei uns im Mittelpunkt. In vielen Freikirchen steht die Kanzel darum auch vorne in der Mitte des Gottesdienstraums.
Welcher Schatz ist das Wort Gottes! Lies doch mal ein Evangelium am Stück – ohne Unterbrechung. Oder einen Brief im Neuen Testament. Nimm dir mal eine Stunde Zeit, aufmerksam einen längeren Abschnitt der Bibel zu lesen. Denn: Welche Kraft entfaltet das Wort Gottes, wenn es auf offene Herzen trifft! Welche Veränderung bewirkt das gehörte Wort Gottes im Leben eines Menschen! Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig… (Hebräer 4,12) In Neh 8 hören wir ein Beispiel von dieser Kraft und Lebendigkeit.
Denn alles Volk weinte, als sie die Worte des Gesetzes hörten. (8,9) Obwohl sie doch wirklich Grund hatten, über die in Rekordzeit wieder aufgebaute Mauer zu jubeln und sich zu freuen – fließen Tränen. Lange Zeit habe ich nachgedacht: warum wird nicht erwähnt, weshalb sie weinten? Bis mir klar wurde: das ist doch offensichtlich. Die Menschen sind traurig über ihre Schuld. Sie weinen, weil das Volk Israel trotz offensichtlicher Mahnungen, ungehorsam war gegen Gott und Er sein Volk bestrafte. Das hörten sie aus dem Gesetz Mose – den 5 Büchern Mose, die an diesem Tag ihnen vorgelesen und erklärt werden.
Traurigkeit ist manchmal gut und notwendig! Durch Trauern nehmen wir wahr, was wir aus Angst, Stolz oder Scham lieber verdrängen: eigene Schuld, Versagen, Ungehorsam. Durch Traurigkeit erkennen wir die ganze Wahrheit über uns, die auch traurig ist. Im Buch Prediger steht: Trauern ist besser als Lachen; denn durch Trauern wird das Herz gebessert. (7,3) Ohne Zeiten des Trauerns werden wir geistlich nicht reifen und wachsen. Ohne Trauern wird unser Herz nicht gebessert. Ohne die Traurigkeit über eigene Schuld bleiben wir blinde Schauspieler. Und auch Gott ist selbst ist traurig, wenn er sieht, wie wir egoistisch, lieblos, umbarmherzig sind. Gott ist traurig, wenn wir nicht vertrauen und gehorchen. Wenn wir über unsere Schuld traurig sind, dann nehmen wir zur Kenntnis, was Gott traurig gemacht hat. Wenn ich über meine eigene Schuld traurig bin, weiß ich: Gott ist in mir am Werk. Denn die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemanden reut; die Traurigkeit der Welt aber wirkt den Tod. (2. Kor 7,10)
Erinnerst du dich: wann warst du das letzte Mal traurig über das Leiden und Sterben von Jesus? Wann hat dich der gebrochene Leib Jesu schon Mal traurig gemacht? In der Mahlfeier wird uns jedes Mal vor Augen geführt: So konkret ist deine Schuld. So konkret ist Gottes Schmerz. Und so konkret sind seine Gnade und Güte zu dir und allen Menschen!
Und seid nicht bekümmert; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke. Die Menschen werden wiederholt ermahnt, nicht traurig zu sein. Aber nicht, weil Gottes Kinder nie traurig sein dürfen. Hier steht: »Seid nicht traurig, und weint nicht! Heute ist ein Festtag; er gehört dem Herrn, eurem Gott! Nehemia und Esra nehmen Gottes Wort ernst. Im 5. Mose 16,14f steht: und du sollst fröhlich sein an deinem Fest, du und dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, der Levit, der Fremdling, die Waise und die Witwe, die in deiner Stadt leben. (…); darum sollst du fröhlich sein. Weil dies ein besonderer, von Gott verordneter Festtag war, sollten die Menschen feiern und fröhlich sein. Mit der Freude am Herrn ist vor allem die in Festen erlebte Freude gemeint. Es ist das gemeinsame, fröhliche Feiern der Liebe und Güte Gottes. Im Buch Prediger steht: Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: (…) weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; (3,1+4)
Vor vielen Jahren wurde einem kleinen Jungen ein kostbares Geschenk gemacht: Die goldene Taschenuhr seines verstorbenen Großvaters. Oh, wie er sie geliebt hat. Aber eines Tages, während er in der Eis-Fabrik seines Vaters spielte, verlor er die Uhr zwischen all dem Eis und de Sägespänen. Er suchte, wühlte, wurde panisch aber keine Uhr. Doch dann wusste er plötzlich was zu tun war. Er hörte mit dem hektischen Herumsuchen auf und wurde ganz ruhig, ganz leise. Und in dieser Ruhe und Stille hörte er es: das leise Ticken der goldenen Uhr seines Großvaters. Gott hat jedem von uns ein kostbares Geschenk gemacht, das Geschenk der „Freude an Ihm.“ Aber wie einfach ist es, diese Freude in der Hektik des Alltags zu verlieren! Und doch ist sie immer noch da. Die Freude am Herrn möchte von uns gefunden werden. Wir müssen uns entscheiden, still zu werden, eine Pause einzulegen, unsere Gedanken zur Ruhe zu bringen und auf die wunderbare Gegenwart Gottes in unserem Leben zu achten.
„Herr, schenke mir den Hunger nach deinem Wort. Ich möchte dich und dein Wort lieben. Hilf mir, über meine eigene Schuld traurig zu sein, dass mein Herz gebessert wird. Und dann füll mich mit deiner Freude, die meine Stärke ist! Zeige mir, wie ich die Freude haben kann, die mich näher zu dir zieht. Danke, dass deine Freude dazu bestimmt ist, in mir zu bleiben und überzufließen!“
Amen