Wo aber sind die Neun?
Lk 17,11-19  |  04.10.20  |  V. Janke

Nie hat er die Strafe vergessen. Peter Härtling, geb. 1933, hatte als Kind seiner Mutter eine Mark aus der Schublade in der Küche gestohlen. Er dachte, sie merkt es nicht. Er wollte unbedingt diese Mundharmonika. Aber die Mutter bemerkte den Diebstahl. Sie stelle ihn zur Rede. Es gab Tränen, Geschrei. Schließlich gab er es zu. In seinem Zimmer sollte er auf den Vater warten. Auf die Strafe, die er nie vergessen sollte.


„Er straft mich. Anders, als ich es erwarte. Er nimmt mich nicht zur Kenntnis, schließt mich aus seiner Gegenwart aus. Bei Tisch bin ich für ihn ebenso Luft wie am Abend im Wohnzimmer oder bei den Großeltern. Er sitzt mir gegenüber und sieht mich nicht. Er geht an mir vorbei und sieht mich nicht. Er steckt die anderen, selbst die jüngere Schwester, damit an. Ich höre sie, aber wenn ich mit ihnen rede, hören sie mich nicht. Ich sehe sie, doch ich bin für sie nicht vorhanden. Vielleicht wollen sie mich verrückt machen? Vielleicht wollen sie mich aus der Welt schweigen? Mit nichts kann ich sie rühren. Ich erfinde Worte, schneide Faxen, schlage Purzelbäume, verrenke meine Glieder, ich stelle Fragen und gebe mir selber die Antworten. Ich bin nicht mehr anwesend für sie. Nur Mutter kommt abends, wenn ich im Bett liege, streichelt mich wortlos. Ihre Hände reden und sie murmelt, warum hast du das nur getan? - Er hielt die Strafzeit länger als eine Woche durch. Das Schweigen wurde sichtbar. Es sank auf die Diele, auf die Möbel, auf uns. Wir bewegten uns langsamer, vorsichtiger, um die gewalttätige Stille nicht zu stören. Obwohl ich neben ihm saß, erfuhr ich es wie durch Boten, dass er am nächsten Tag mit Lore Sarrasani besuchen werde. Wie versprochen, doch ohne den Jungen! Es schien, als befände sich der von ihm Abgewiesene auf der anderen Seite der Erdkugel. Ich stand hinter den Gardinen und sah ihnen nach: mein Vater führte meine Schwester an der Hand und unterhielt sich mit ihr, als sie durch den Vorgarten gingen. Manchmal, Vater, kehren Sprichwörter in ihre gelebte Bedeutung zurück. Seit dieser stummen Kur kann ich den Satz „er schweigt ihn tot“ nicht mehr lesen, geschweige denn schreiben, ohne dass es mich schaudert.“ (Nachgetragene Liebe)


Das eigene Kind totschweigen. Wie grausam ist das. Die Seelenqual dieses Kindes gibt mir eine Ahnung von der Qual dieser zehn Männer. Und eine Ahnung, was es bedeutet verloren zu sein.
Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!
Hier steht viel mehr als wir uns vorstellen können. Welche Geschichten würden die zehn Aussätzigen uns erzählen! Geschichten zum Schaudern würden wir hören. Welche Not, welche Qualen hat jeder von ihnen auf dem Herzen. Jeder einzelne hatte unvorstellbares Leid erlebt. Ehefrauen, Kinder, Geschwister, Eltern verlassen müssen. Für immer. Kannst du dir das vorstellen, deine Familie für immer verlassen zu müssen? Auch die Familie und die Freunde gehören mit ihrem Leid zu diesen 10 Männern. Lepra ist eine der ältesten und ekelerregendsten Volkskrankheiten. Sie wird durch ein Bakterium verursacht. Das zerstört die Haut und Schleimhäute und befällt die Nervenzellen. Menschen mit Lepra entwickeln Gewebeschäden am gesamten Körper. Häufig kommt es zu Verstümmelungen an Gesicht, Händen, Füßen und Rücken. 2018 wurden in 127 Ländern 208.619 neue Lepra-Patienten registriert. Experten schätzen, dass es weltweit noch etwa 12 Millionen Leprakranke gibt.


Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!
Lepra galt als Strafe Gottes. „Gott bestraft ihn für eine schwere Sünde. Er hat es verdient. Er ist verflucht…“ Leprakranke wurden buchstäblich „ausgesetzt“, woher auch der Name Aussatz herrührt. Weil Menschen aber Kontakt zu anderen Menschen brauchen, schlossen sich Aussätzige zu Gruppen zusammen. Diese Gruppen kann man auch Schicksals-gemeinschaften nennen. Not schweißt hier sogar Juden und Samariter zusammen. Die mieden sich sonst wie die Pest. Schicksalsgemeinschaften findet man auch im Krankenhauszimmer. Im Hospiz. In Gemeinden. Da treffen sich Sünder, die einen Heiland haben und brauchen. Eine Schicksalsgemeinschaft ist ein Miteinander, das es normalerweise nicht geben würde.


Gegen Lepra war die Medizin machtlos. Lepra war unheilbar. Lepra bedeutete ein sicheres Todesurteil, einen Tod auf Raten. Schlimmer als Corona. Aussätzige wurden in mehrfacher Weise ausgegrenzt: Durch die Erkrankung verloren die Betroffenen den Kontakt zur Familie, zu Nachbarn und Freunden. Menschen mit Aussatz durften auch nicht am religiösen Leben teilhaben. Die Erkrankten wurden vom Hohepriester als „unrein“ erklärt. … die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Hänsel und Gretel wurden im Wald ausgesetzt. Die Eskimos setzten neugeborene Mädchen im Eis aus. Man brauchte Jungs. Aussatz beginnt mit aus. Wie Ausgegrenzt. Ausgebootet. Ausgeschlossen. Ausgebuht. Ausgesperrt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Aussatz bedeutet es ist aus. Du bist raus.


Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein, unrein! Und solange die Stelle an ihm ist, soll er unrein sein, allein wohnen, und seine Wohnung soll außerhalb des Lagers sein. 3 Mo 13,45f


Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne.


Charles Spurgeon: „Der Anblick eines Aussätzigen war außerordentlich ekelhaft. Mehr und mehr vermoderten die Knochen, in manchen Fällen faulten die Finger ab, und doch heilte das verstümmelte Glied ohne wundärztliche Hilfe, ja ohne nur zu bluten, wieder zu. Wenn die Krankheit ihre höchste Stufe erreichte, dann faulte der ganze Leib Zusammenhang, alle Bande lösten sich, und die ganze Leibeswohnung glich eher einem abschreckenden Klumpen belebten Unrats, als dem edlen Tempel des Geistes, zu dem sie Gott ursprünglich geschaffen hatte. Ich wäre nicht im Stande, euch heute das ganze ekelhafte und abschreckende Bild der bedenklicheren Fälle des Aussatzes zu beschreiben; es wäre zu ergreifend, ja zu entsetzlich anzuhören. Und doch muss ich sagen, so schrecklich euch der Aussatz auch vorkommen mag, so gibt er uns doch nur ein schwaches Bild von der Abscheulichkeit der Sünde. Wenn Gott es aussprechen könnte, oder vielmehr, wenn wir im Stande wären, zu vernehmen, was Gott uns zu sagen hätte von dem unaussprechlichen Elend und der Unreinigkeit der Sünde, so müssten wir wahrlich darob sterben. Gott verschleiert allen Augen den wahren Anblick der Sündenfinsternis. Es gibt keine Kreatur noch irgendeinen Engel vor seinem Thron, dem je die unbeschreibliche Fluchwürdigkeit der Empörung gegen Gott völlig bekannt geworden wäre. Und doch war das Wenige, was Gott, der Heilige Geist, uns davon in unserer Bekehrung zeigte, da wir unsere Sünden erkannten, genug, um uns den Wunsch ins Herz zu geben: Ach, dass wir nie geboren wären!“


„Obwohl der Leprakranke nicht böser oder schuldiger war als seine Landsleute, so war er doch ein Gleichnis der Sünde - ein äußerliches sichtbares Zeichen von innerer geistlicher Verdorbenheit.“ Anglik. Erzbischof Richard Chenevix Trench (1807-88)


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Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!


Aussatz ist ein anschauliches Bild von der Sünde und ihrer tückischen Wirkung. Wie der Aussatz bewirkt die Sünde einen unreinen Zustand. Jeder Mensch ist in seinem natürlichen Zustand einem Aussätzigen gleich. Verabscheuungswürdig in seiner Person, in all seinem Tun und Handeln vergiftet. Er ist unfähig zum Umgang mit den Kindern Gottes und ganz und gar von der Gegenwart Gottes ausgeschlossen. Dieser Aussätzige, das war ich!
An diesen zehn Männern sehe ich meine verzweifelte Lage ohne Jesus. Am Kreuz von Golgatha nahm Jesus meinen Platz ein. Er wurde für mich der Aussätzige. Am Kreuz wurde der Sohn Gottes aus Liebe zum Aussätzigen. Er wurde der von Gott verstoßene. Um meinetwillen und um deinetwillen.


Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns! ZB
Dieser kurze Satz bringt die Wende. Angesichts des unvorstellbaren Elends dieser Menschen frage ich mich:

  • Wie haben sie diese Worte gesagt?
  • Wie klingt es, wenn verzweifelte Männer um Erbarmen bitten?
  • Wie klingt Verzweiflung?

Die Bitte um Erbarmen war für Aussätzige tägliche Übung. Sie lebten vom Erbarmen der Menschen, die ihnen Nahrung gaben, Kleidung, Wasser. Sie baten Menschen täglich um Erbarmen. Wie ist das, wenn man jeden Tag Menschen bittet, „hab Erbarmen mit mir!“?

  • Erbarmen bedeutet, die Not des anderen so an sich heranzulassen, dass man die Not lindern oder beenden will.
  • Erbarmen bedeutet, andere Not so mitzufühlen als ob es die eigene Not ist.
  • Wie ist das, wenn man jeden Tag vom Erbarmen anderer lebt?

Ohne Erbarmen würde sie sterben. Ohne Gottes Erbarmen würde ich nicht leben. Auch wenn ich nicht täglich um Erbarmen bitte, erbarmt sich Gott doch täglich über mich. Das ist wahr, auch wenn ich es nicht sehe.


Wer noch nie Gottes Erbarmen so nötig hatte wie diese 10 Aussätzigen, der weiß nicht wirklich, was es heißt, verloren zu sein.


Die Bitte um Erbarmen ist eine Überlebensstrategie. Für diese Männer war die Hoffnung auf Erbarmen die einzige Hoffnung. Im Propheten Micha steht das wunderbare Wort, Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. 7,19


Diese 10 Männer lehren mich, wie sehr auch ich Barmherzigkeit nötig habe.


Und als er sie sah, sagte er zu ihnen: Geht und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, während sie hingingen, dass sie rein wurden.


Alles, was zum Wunder der Heilung der unheilbar Kranken nötig war, war Vertrauen. Geht und zeigt euch den Priestern. So unfassbar einfach. Mehr brauchte es nicht als Jesus beim Wort zu nehmen. Diese zehn Männer haben Jesus beim Wort genommen. Mehr braucht es auch heute nicht. Wer Jesus beim Wort nimmt, geht hin. Wer Jesus beim Wort nimmt zeigt sich als von Jesus Gesandter. Wer Jesus vertraut, wird rein, muss sich nicht mehr verstecken, nicht mehr fürchten, nicht mehr ohne Gott sein. Wer Jesus vertraut, geht den Weg mit seinem Wort. Mit Jesus. Gottes Wort macht uns Beine, sofern wir vertrauen.


Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter.


Hier passen die ersten beiden Fragen und Antworten aus dem Heidelberger Katechismus sehr gut.


Frage 1  |
Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
(Heidelberger Katechismus)


Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre. Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst; und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben.


Frage 2  |
Was musst du wissen, damit du in diesem Trost selig leben und sterben kannst?


 1 |   Wie groß meine Sünde und Elend ist. Schau auf die 10 Aussätzigen! Die helfen dir, diese Frage zu beantworten. Du bist wie sie.


 2 |   Wie ich von allen meinen Sünden und Elend erlöst werde. Schau auf die 10 Aussätzigen! Sie beantworten dir auch diese Frage. Du brauchst Jesus und Erbarmen. Du brauchst Vertrauen. Und Mut, Jesus beim Wort zu nehmen.


 3 |   Wie ich Gott für solche Erlösung soll dankbar sein. Schau auf den einen, der umkehrte, um Gott die Ehre gab. Er war dankbar für seine Erlösung!
Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm


Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Können Menschen so sein? So undankbar? So eingefahren auf eigenen Wegen? So vergesslich?


Da fehlen mir die Worte. Unfassbar ist das. Sie bekommen das mit Abstand größte Geschenk ihres Lebens und sie sagen nicht danke? Nicht das Wunder der Heilung beschäftigt Jesus. Jesus geht es um die Beziehung zu Gott, um Glauben, der gelebt wird, um Gottes Ehre. Was bedeutet es, Gott die Ehre zu geben? Gott zu kennen und das auch zu zeigen. Ich ehre Gott indem ich ihm danke und ihn bekenne als meinen Gott. Ich ehre Gott, indem ich mir Zeit nehme für Gott. Dieser Samariter gab Gott die Ehre. Danke Gott, weil du so bist: Barmherzig. Mächtig. Gütig.


Das Wunder der Heilung genügt Jesus nicht. Dass du gesund bist, genügt Jesus nicht. Dass es dir gut geht, genügt Jesus nicht. Dass du zufrieden bist… Dass du genug zum Essen hast… Dass du satt wirst… Dass du keine Sorgen hast… Jesus erwartet, dass du umkehrst. Zu ihm. Jesus wartet auf Dich. Jesus möchte, dass du Gott die Ehre gibst. Um deinetwillen. Gott die Ehre geben bedeutet Gott zu kennen. Gott will niemanden totschweigen. Im Gegenteil. Er will den Tod überwinden. Er will reden und hören. Er will dein Heil. Denn:

Barmherzig, geduldig und gnädig ist er, viel mehr als ein Vater es kann.



Baptisten Nordenham | Zoar-Kapelle | 26954 Nordenham | Friedrich-Ebert-Str. 65   
Gottesdienst: So 10:00

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