Es ist wichtig zu verstehen was sich damals zwischen Paulus und den Korinthern zugetragen hat. Wir können daraus lernen, wie unsere Verantwortung füreinander und das Wirken von Gottes Geist auch heute notwendig sind für unser Leben als Christen. Ein bekanntes Ereignis aus der Geschichte kann uns helfen, diesen Text besser zu verstehen: Unter Heinrich IV kam es im 11 Jh. zu einer Krise zwischen dem deutschen Herrscher und dem Papst. Im 'Dictatus papae' erhob der Papst Gregor VII den Anspruch auf das Recht auch den Kaiser absetzen zu können. Darauf versuchte Heinrich IV - er war eine entschiedene aber unausgeglichene Persönlichkeit - den Papst abzusetzen, wobei einige deutsche Bischöfe ihn unterstützten. Wie reagierte Gregor VII? Er belegte den Träger der deutschen Krone mit dem Bann (Kirchenausschluss), worauf die deutschen Fürsten Heinrich IV auf der Reichsversammlung von Tribur suspendierten und den Papst nach Deutschland einluden. Die deutschen Bischöfe und Fürsten verließen den König und beschlossen seine Absetzung, wenn er sich nicht mit der Kirche aussöhnte. Unter diesem Druck ging Heinrich IV dem Papst entgegen und vollzog am 27.1.1077 in Canossa die kirchliche Buße in den in der damaligen Zeit üblichen Formen. Er näherte sich der päpstlichen Residenz auf Knien im Schnee und zwang den Papst dadurch ihn vom Bann zu lösen. Der Gang nach Canossa ist ein bekanntes Beispiel tiefer Selbstdemütigung. Viele Jahre später fand unter Bismarck der Kulturkampf in Deutschland statt. Es war ein langer Konflikt zwischen Staat und Kirche. Während dieses Kulturkampfes prägte Bismarck am 14.5.1872 im Reichstag die Redewendung 'Nach Canossa gehen wir nicht.'
'Nach Canossa gehen wir nicht' soll heißen: Wir ändern unseren Standpunkt nicht, wir bleiben bei unserer Meinung, wir werden keine Schuld zugeben, wir sind im Recht und bleiben im Recht. Das ist auch heute eine Haltung vieler Menschen. Diese Haltung hatten auch die Korinther: nach Canossa gehen wir nicht. Paulus hatte sie besucht und erlebt wie die Gemeinde einen Bruder in Schutz nahm, der eigentlich zurechtgewiesen werden sollte. Die Gemeinde hörte nicht auf Paulus. Es war ein trauriger Besuch (2,1) - ein erfolgloser Besuch. Also schrieb er den 'Tränenbrief' und sandte ihn durch Titus an die Gemeinde (2,4). Und dann kam eine bange und angsterfüllte Zeit des Wartens auf Antwort. Wie würde die Gemeinde auf diesen sicherlich sehr ernsten Brief reagieren? Wie sehr die Sache Paulus beschäftigte läßt sich erahnen aus der Tatsache, dass Paulus die Möglichkeit nicht wahrnahm in Troas zu evangelisieren (2,12f).
Heinrich IV ging nach Canossa, weil er dadurch einen politischen Vorteil erlangte. Seine Demütigung war nur Schein, war Show aufgrund des politischen Drucks. Bei ihm fand keine Sinnesänderung statt. Doch genau das ist der Wunsch, den Paulus für die Korinther hatte. Und darum schrieb er einen Brief unter vielen Tränen. Diese Verse geben uns einen Einblick in das Herz eines Seelsorgers, dem das Wohlergehen seiner Geschwister sehr am Herzen liegt. Paulus wünschte sich, dass die Korinther umkehren, dass sie ihre falsche Haltung aufgeben. Und er begnügt sich nicht nur mit einem Fürbittegebet. Er wird aktiv. Dieser Text gibt uns zeitlose Prinzipien für die Umkehr irregehender Christen.
Der einzige Ort in der Welt wo es möglich ist in der Verantwortung vor Gott zu leben ist die Gemeinde Jesu. Das heißt praktisch: wir sind aufeinander angewiesen und aufgerufen, einander zu helfen. Wir brauchen einander, um auf dem richtigen Weg zu bleiben oder auf den richtigen Weg zurückzukommen. Laßt uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken und nicht verlassen unsere Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das um so mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht. (Heb.10,24f) vgl. Gal 2,11-14
Wir sind aufgerufen, darauf zu achten, dass alle Glieder der Gemeinde geistlich gesund bleiben (Heb 12,14-17). Alle sind wichtig. Ist es wirklich so? Sind uns alle wichtig? Paulus war nicht gefühllos gegenüber den geistlichen Verirrungen und Verstrickungen anderer. Paulus fragte die Korinther in einer bestimmten Seelsorgesituation (1 Kor 5,2): Und ihr seid aufgeblasen und seid nicht vielmehr traurig geworden, so dass ihr den aus eurer Mitte verstoßen hättet, der diese Tat begangen hat? Ist der Grund für die fehlende Traurigkeit vielleicht die falsch verstandene Liebe (2 Kor 2,4) oder die Blindheit für Gottes Heiligkeit und Majestät (2 Kor 6,14-18)? Doch Umkehr ist nur möglich aus eigener Einsicht in Schuld. Kein Mensch kann zur Umkehr gezwungen werden. Dann wird es wahr...
∎ 1.1 | Wer sich weigert umzukehren, bereitet denen, die geistlich sind Traurigkeit. 2,1.4; 7,5 Der Besuch von Paulus war erfolglos. Das war eine schwere Zeit für ihn. Und doch gehört auch das mit zur Realität geistlicher Arbeit - gutgemeinte Anstrengungen bleiben fruchtlos. Und mühevolle Arbeit, die über Jahre geleistet wurde, ist in Gefahr, umsonst gewesen zu sein. Eine Gemeinde, die alle geistlichen Gaben von Gott hatte, die sie sich wünschen könnte, war auf dem besten Weg der Strategie Satans zum Opfer zu fallen (2,11). Wer sind heute geistliche Lehrer, denen wir nach Hebr 13,17 gehorchen sollen? Gehorcht euren Lehrern und folgt ihnen, denn sie wachen über eure Seelen - und dafür müssen sie Rechenschaft geben -, damit sie das mit Freuden tun und nicht mit Seufzen; denn das wäre nicht gut für euch. Auch Titus, der die Gemeinde persönlich nicht kannte (14), war trostbedürftig (7).
Es geht immer um mehr als nur um menschliche Gedanken und Meinungen, die manchmal konträr sind. Das Bewußtsein, dass alle Gläubigen in einem geistlichen Kampf stehen, ist leider nur bei wenigen vorhanden. Paulus wußte nur zu gut, dass Satan Anstrengungen machte das Werk Gottes zu lähmen. Tatsache war: die Gemeinde in Korinth hatte sich von Gott abgekehrt und brauchte eine neue Umkehr zu Gott. Einerseits war es eine ernste Meinungsverschiedenheit zwischen Paulus und der Gemeinde - andererseits war es eine satanische Verführung.
∎ 1.2 | Wer umkehrt bereitet denen, die geistlich sind Freude. 7,6f.13b.16 Gott gebraucht Menschen, um irregehende Christen zur Umkehr zu bringen. Und diese Anstrengungen segnet Gott. Paulus hat es schließlich erlebt, dass die Gemeinde ihre Schuld erkannte und gehorsam wurde. Ein neuer Eifer für Gott und für Paulus war entfacht. Ist es nicht erstaunlich, wie schnell Paulus den Schmerz und die Traurigkeit loslassen konnte? Die Sinnesänderung der Korinther bewirkte eine Gemütsänderung bei Paulus. Er hatte vergeben, es war Vergangenheit - jetzt freut er sich überschwänglich. Als ob diese ernste Auseinandersetzung nie geschehen wäre. Die Korinther haben ihre Schuld erkannt. Paulus hat ihnen vergeben 2,7-10. Auch Gott freut sich wenn ein Mensch Buße tut (Lk 15). Paulus sah es als nötig an, die Christen in Korinth zu ermutigen, wirklich zu vergeben (2,6-11). Seelsorgerliche Anstrengungen sind nötig, um irregehende Christen zur Umkehr zu bringen. Doch menschliche Anstrengungen allein bringen niemand zur Umkehr.
Nach einer englischen Übersetzung wird 2. Kor 7,10+11 so wieder gegeben: "Denn manchmal gebraucht Gott Traurigkeit, um uns zu helfen, dass wir uns von der Sünde abwenden und das ewige Leben suchen. Wir sollten es nie bedauern, dass Gott diese Traurigkeit sendet. Doch die Traurigkeit des Menschen, der kein Christ ist, ist keine Traurigkeit echter Umkehr und bewahrt nicht vor dem ewigen Tod. Seht nur, wie viel Gutes dieser Schmerz von Gott bewirkt hat! Ihr zuckt eure Schultern nicht mehr, sondern seid ernsthaft und aufrichtig und bemüht, die Sünde zu lassen von der ich euch schrieb.”